Leseprobe Drachenstein

Drachenstein

1.       Kapitel

Das laute Ticken der Standuhr machte mich immer noch wahnsinnig. Man könnte meinen, dass ich mich nach drei Monaten daran gewöhnt hätte, doch ich brauchte immer noch Ohrstöpsel, um nach stundenlangem Rumgewälze endlich in den Schlaf fallen zu können. 
Nachdem ich nach stundenlangem Dösen immer noch nicht eingeschlafen war, setzte ich mich auf und machte mein Nachtlicht an.
3:24 verriet die Uhr. Seufzend lehnte ich mich an die Wand.
„Ich kann nicht schlafen“, tippte ich. Dass Ron schon seit vier Tagen unterwegs war, machte mir Sorgen. Er hatte sich nur ein einziges Mal gemeldet, und das war am Anfang seiner Reise.
Ich erwartete mir keine Antwort auf meine Nachricht, da ich auch schon auf die letzten zehn Nachrichten keine Antwort bekommen hatte, doch ich hatte trotzdem das Gefühl, ihm schreiben zu müssen.
Mein Bauch grummelte und schlussendlich stand ich auf. Ich knipste das Licht wieder aus, öffnete das Fenster, um für Frischluft zu sorgen und schlich auf Zehnspitzen nach unten in die Küche. Als ich am Zimmer meiner Großmutter vorbeikam, lauschte ich ein paar Atemzüge lang an ihrer Tür, um sicherzugehen, dass ich sie nicht geweckt hatte. Ihr leises Schnarchen beruhigte mein Gewissen.
Wie in so vielen anderen Nächten auch, machte ich mir ein Müsli und setzte mich auf das große Fensterbrett in der Küche. Ich liebte diesen Ort schon seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte.
Während ich also in der Dunkelheit der Küche saß und mein Müsli aß, zog sich meine Brust immer weiter zusammen. Ich kannte dieses Gefühl, aber wusste nichts damit anzufangen. Es fühlte sich nach Heimweh an, obwohl ich zu Hause war.
Der große Garten meiner Großmutter sah im fahlen Mondlicht aus wie ein verwunschener Ort, an dem Feen und Heinzelmännchen leben könnten. Was würde ich nur dafür geben, diesen besonderen Anblick mit Ron zu teilen? Aber das war meine geringste Sorge im Moment. Viel mehr würde ich dafür geben, zu wissen, ob es ihm gut ging. Obwohl auf einer Drachenjagd bis jetzt noch nie etwas passiert war, konnte man es doch nicht ganz ausschließen. Dieses Mal waren nur fünf Drachen losgeflogen und die Angaben darüber, wie viele Drachenjäger es gab, waren äußerst ungenau.
Ich hatte mir schon gestern überlegt, in die Drachenwelt zu gehen und dort nachzufragen, ob es Neuigkeiten gäbe, doch mir war es vom Rat verboten worden, mich ohne Ron an meiner Seite zu verwandeln oder auch nur in die Nähe der Portale zu gehen. In Amerika war die Situation noch angespannter, da es hier anscheinend sehr viel mehr Drachenjäger gab. Der Rat hatte mir angeboten, Simon zurückzuholen, damit er bei mir sein konnte, während Ron auf der Jagd war, doch das lehnte ich sofort ab. Ich wollte auch keinen anderen Kampfdrachen an meiner Seite, der mich Rund um die Uhr im Auge behalten würde. Abgesehen davon, dass es schwer möglich wäre, die Anwesenheit dieser Bodyguards meiner Großmutter zu erklären.
Mittlerweile war es 04:00 und ich war wacher denn je. Trotzdem ging ich zurück in mein Zimmer und legte mich ins Bett, in der Hoffnung, dass ich doch noch müde werden würde.
Ich rollte mich in meine Decke ein und blickte aus dem Fenster. In diesem Moment flog ein Glühwürmchen herein und setzte sich auf meine kleine Zimmerpflanze. Lächelnd schaute ich ihm zu, bis meine Augen endlich schwer wurden und ich in einen unruhigen Schlaf fiel.

„Guten Morgen!“, weckte mich die glockenhelle Stimme meiner Großmutter. Verschlafen öffnete ich ein Auge nach dem anderen. Mein Zimmer war lichtdurchflutet und meine Großmutter war bereits frisch herausgeputzt. „Raus aus den Federn, Kindchen! Du kannst doch nicht den ganzen Tag verschlafen.“
Ich wünschte, ich könnte. Stöhnend krabbelte ich unter meiner Bettdecke hervor und schlurfte zu meinem Kleiderschrank.
Nach einer kalten Dusche fühlte ich mich zwar besser, aber noch lange nicht dazu fähig, einen produktiven Tag zu starten.
Meine Oma drückte mir eine dampfende Kaffeetasse in die Hand. Ich folgte ihr in den Garten und wir setzten uns in den Schatten des großen Kirschbaums.
„Ich habe gute Neuigkeiten.“, sagte meine Oma zu mir, während sie nach oben blickte. Diese Angewohnheit mochte ich gerne an ihr. Ständig schien sie in einer anderen Welt zu sein und andere Dinge zu sehen als ich.
„Erzähl!“, forderte ich sie auf.
„Gestern habe ich mit einer guten Freundin von mir gesprochen und sie hat mir erzählt, dass sie dringend eine Aushilfe in ihrer Bibliothek braucht. Da habe ich dich natürlich sofort vorgeschlagen!“, sagte meine Großmutter lächelnd. Ihre zarten Falten umspielten ihr gebräuntes Gesicht und machten sie noch hübscher.
„Das ist ja super! Soll ich für ein Gespräch kommen?“
„Ich habe gesagt, du kommst heute Nachmittag mit mir mit. Dann wird sie dir die Bibliothek und deine Arbeiten zeigen. Dann schauen wir weiter.“
Ich wurde ganz aufgeregt! Seit ich hier war, hatte ich schon verschiedene Bewerbungen abgeschickt, aber noch keine Antworten bekommen und meine Großmutter tratschte einmal mit einer Freundin und hatte sofort mehr Glück! Aber ich freute mich, denn besser konnte es nicht kommen. Ich liebte Bücher und die Ruhe in Bibliotheken.

Ich stand mal wieder viel zu lange vor dem Kleiderschrank und rätselte, was ich anziehen sollte. Natürlich war es wichtig, einen guten ersten Eindruck zu machen, aber ich wollte auch nicht zu spießig oder ernst erscheinen. Ich hängte mein schwarzes Kleid wieder zurück auf den Hacken - das war eindeutig nicht die richtige Wahl. Vielleicht sollte ich das Ganze anders angehen, dachte ich, und startete mit den Schuhen. Ich würde bestimmt meine dunkelblauen Turnschuhe anziehen, deshalb stellte ich sie vor den Schrank und versuchte, ein gutes Outfit dazu zu kombinieren. Nach einer halben Stunde hatte ich mich für eine enge schwarze Hose und ein Jeanshemd entschieden. Meine Haare band ich streng zu einem hohen Pferdeschwanz zurück und legte leichtes Make-up auf.

Als wir die Bibliothek betraten, schlug mir sofort der angenehme Geruch von zerlesenen Seiten entgegen. Die Bibliothek war größer, als ich sie mir vorgestellt hatte. Durch hohe, schmale Fenster schienen kleine Lichtstreifen in den ansonsten relativ dunklen Raum. Die Bücherregale ragten bis kurz unter die Decke. Um auch die höchsten Bücher noch erreichen zu können, waren an jedem Regal Leitern angebracht. Im Eingangsbereich war ein großer Schreibtisch aufgestellt, auf dem sich Bücher stapelten und kleine Zettel herumflogen. Inmitten des Chaos saß eine Frau mit einer dunkelrot umrahmten Brille und wilden Haaren, die halbherzig zu einem Dutt hochgesteckt waren. Als sie meine Großmutter und mich sah, breitete sich ein erleichtertes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
„Anne! Ich bin ja so froh, dich zu sehen!“, rief sie meiner Großmutter zu. „Und dich natürlich auch, Kindchen. Lass dich anschauen!“, sie kämpfte sich hinter dem Schreibtisch hervor und bewegte sich schwungvoll auf uns zu.
Sie nahm mein Gesicht in die Hände und drückte mir links und rechts jeweils ein Küsschen auf die Wange. „Eine wunderschöne Enkelin hast du, Anne.“, lächelte sie.
„Ich weiß, ich weiß, Hera.“, lachte meine Großmutter.
Ich war überwältigt von Hera! Ihr Wesen erhellte den ganzen Raum. Ihre leicht verwirrte Art erschien mir sofort sympathisch.
Sie führte uns an den riesigen Regalen von Büchern vorbei, bis wir an einer kleinen, hinter einem Vorhang versteckten Tür ankamen. Dahinter verbarg sich ein unordentliches, aber ausgesprochen gemütliches Büro.
„Tee oder Kaffee?“, fragte sie.
„Tee, bitte“, antworteten meine Großmutter und ich wie aus einem Mund.
Wir setzten uns auf die großen Ohrensessel aus smaragdgrünem Samt und ich blickte mich staunend um. Hinter dicken, dunkelroten Vorhängen verbarg sich ein großes, altes Fenster, welches einen kleinen Innenhof erblicken ließ. Die Wände des Raumes erschienen viel zu groß und waren behangen mit Bildern von Blumen. Hinter mir befand sich ein riesiger Aktenschrank aus dunklem Holz, der sich unter dem Gewicht der Akten und Bücher schon ein wenig verbogen hatte.
Hera ließ in der kleinen, provisorischen Küche Wasser aufkochen und richtete ein Tablett mit Tassen, einer Teekanne, Zucker und einem Teller voller Kekse her. Meine Großmutter, die sich hier wohl schon öfter aufgehalten hatte, begann die Zeitschriftenstapel vom Tisch zu räumen, um Platz für den Tee zu machen.
„Sag, Emilie. Hättest du vielleicht Lust, bei mir zu arbeiten?“, Hera drehte sich zu mir und kam direkt auf den Punkt. „Wie du siehst, bin ich ein wenig überfordert. Und nächste Woche öffne ich wieder.“
„Ja, natürlich!“, sagte ich sofort.
„Wunderbar! Danke, du rettest mich!“, rief Hera erleichtert.
So schnell hatte ich noch nie eine Jobzusage! Vor Erleichterung und Freude grinste ich breit. Nun konnte ich endlich selbst Geld verdienen und mich ablenken, wenn Ron nicht da war.
„Die Bezahlung habe ich schon für dich ausgemacht.“, sagte meine Großmutter grinsend.
„Ja, darüber müssen wir nicht reden.“, lachte Hera.
Ich sagte gar nichts dazu, weil ich nicht wusste, was sie ausgemacht hatten.
Wir bliesen schweigend den heißen Dampf von den kleinen Teetassen und rührten klimpernd um.
Nach unserer kleinen Teepause führte mich Hera herum.
„Also, unser kleines Büro hast du ja schon gesehen. Hierher kannst du dich in der Mittagspause zurückziehen. Wir haben Freitag eigentlich geschlossen, aber ich bräuchte in den ersten Wochen auch freitags jemanden, der mir hilft. Könntest du das auch übernehmen?“
„Ja, sicher. Sehr gerne sogar!“, willigte ich ein.
„Wunderbar! Danke!“, sagte sie und strahlte über beide Ohren. „Wie du schon gesehen hast, geht mein Aktenschrank schon über und überall stapeln sich die Briefe und Bücher. Das wäre deine Freitagsarbeit, das zu sortieren.“
Damit hatte ich kein Problem. Ich liebte Arbeiten, bei denen ich organisieren und einordnen konnte.
Hera führte mich durch eine kleine Tür in einen schmalen Gang. Eine der Türen vom Gang führte in einen kleinen Abstellraum mit Putzsachen und die zweite Tür in ein überschaubares Badezimmer.
„Hier findest du Putzsachen und das Badezimmer.“, kommentierte Hera. 
Dann führte sie mich in die Bibliothek hinaus. An den hinteren Ecken standen ganze Tische voller Bücherstapel.
„Die Bücher müssen einsortiert werden, bevor wir öffnen. Das wird deine erste Aufgabe sein.“, sagte Hera. „Sortiert werden sie nach Genre und dann alphabetisch nach den Namen der Autoren.“, erklärte sie und zeigte auf die kleinen Beschilderungen an den Regalböden.
„Okay!“
Hera führte mich zwischen den Bücherregalen hindurch und zeigte mir, wo die unterschiedlichen Genres eingeordnet werden mussten.
Dann führte sie mich und meine Großmutter zurück zum Eingangsbereich.
„Und dieser Schreibtisch... Naja, den muss ich selbst versuchen, in Ordnung zu bekommen. Die Arbeit am Computer zeige ich dir später.“
Wir lachten über Heras leicht verzweifelten Gesichtsausdruck und dann verabschiedeten wir uns herzlich, bevor meine Großmutter und ich wieder nach Hause spazierten. Ich war ganz überwältigt von der wunderschönen Bibliothek und von Hera als Person und schätzte mich unfassbar glücklich darüber, so einen Job bekommen zu haben. Ich bedankte mich nochmals bei meiner Großmutter für diese Möglichkeit und versprach, die Arbeit so gut zu machen, wie ich nur konnte.
„Das weiß ich doch“, sagte meine Großmutter und lächelte mich mit ihrem liebevollen Lächeln an.

 

Zurück zu Hause legte ich mich mit einem Buch in den Garten und genoss die Nachmittagssonne. Ich versuchte mich auf meinen Roman zu konzentrieren, doch plötzlich raschelte es hinter mir und ich fuhr erschrocken hoch. Meine Augen bemühten sich, im dunkeln Wald etwas erkennen zu können, doch ich konnte nichts sehen und ich lehnte mich wieder zurück. Ich vermutete, dass es wohl ein Eichhörnchen gewesen sein könnte, aber gerade als ich mein Buch aufschlagen wollte, berührte mich eine Hand am Rücken.
Ich wirbelte herum und traute meinen Augen nicht! Vor mir stand Ron. Breit lächelnd strahlte er mich an.
„Hallo, schönes Mädchen.“, flüsterte er mir zu.
Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Überrascht lachte ich los und fiel ihm um den Hals.
„Ron! Oh Gott, ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht.“
„Ich weiß, es tut mir leid. Aber ich konnte mich nicht melden. Eigentlich sollte ich auch nicht hier sein. Wir haben nur zwei Drachenjäger erwischt. Mehr konnten wir nicht finden, also sind wir wieder zurückgeflogen. Die anderen sind schon am Weg zum Rat“, berichtete Ron.
Er beugte sich zu mir vor und gab mir einen Kuss. Mein Herz machte einen Sprung, so wie immer, wenn ich ihn nach langer Zeit wieder küsste. Ich wollte ihn gar nicht mehr loslassen.
„Komm, lass uns in die Drachenwelt gehen.“ Ron reichte mir die Hand.
„Unfassbar!“, dachte ich. Wie konnte das nur mein Leben sein? Manchmal hatte ich das Gefühl mich selbst kneifen zu müssen, weil sich mein Leben innerhalb von so kurzer Zeit so krass verändert hatte, dass ich es nicht wiedererkannte. Und das alles begann mit ihm – mit Ron. Ich nahm Rons Hand und er küsste meinen Handrücken, während er mir tief in die Augen blickte. Kichernd verstrubbelte ich seine Haare.
Nachdem ich für meine Großmutter eine kurze Nachricht am Küchentisch hinterlassen hatte, brachen wir auf.
Der Weg zum nächsten Portal war mir schon gut bekannt, obwohl wir noch nicht so oft hingegangen waren. Mein Bauch zog sich zusammen, weil ich schon so aufgeregt war. Ich hatte die Drachenwelt vermisst!
Hand in Hand gingen wir in Richtung Stadt. Kurz nach der ersten Bushaltestelle bogen wir dann auf einen kleinen Trampelpfad ab und bahnten uns den Weg bis zu einer kleinen, zerfallenen Ruine. Um das Portal betreten zu können, musste man von rechts gesehen den dritten Backstein aus der zweiten Reihe eindrücken und den Stein links davon leicht hervorziehen. Rumpelnd bewegten sich die Steine und öffneten uns einen kleinen Schacht, in den wir hineinstiegen. Dann wurde es dunkel und der altbekannte Geruch nach Keller stieg mir in die Nase. Obwohl dieses Portal ein bisschen gruselig war, mochte ich es gerne, mit Ron in die Drachenwelt zu steigen. Ich kuschelte mich nah an seinen warmen Körper und genoss es, ihn wieder an meiner Seite spüren zu können. Ich hatte seinen Geruch vermisst und die Art und Weise, wie er meine Hand hielt.
Er strich mir sanft über den Kopf und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Und dann waren wir auch schon da – in der Drachenwelt.
„Na, hast du deinen Drachen vermisst?“, fragte Ron.
„Oh ja!“
Ich lief los und machte einen großen Satz nach vorne. Augenblicklich verwandelte ich mich und erhob mich mit kräftigen Flügelschlägen in die Luft. Ich konnte mich mittlerweile in weniger als einer Sekunde verwandeln. Auch das Fliegen fiel mir nicht mehr so schwer, wie früher.
„Komm, du langsamer Drache!“, lachten meine Gedanken zu Ron, der sich erst noch verwandeln musste.
„Wen nennst du da langsam?“, ertönte seine Stimme in mir. Und schon schoss Ron wie ein Pfeil neben mich und überholte mich protzend mit seinen riesigen Schwingen.
Kichernd versuchte ich, ihm auf den Fersen zu bleiben. Geschickt nutzte ich es aus, so klein zu sein und flog direkt hinter Ron, um einem möglichst geringen Luftwiderstand ausgesetzt zu sein. Die Höhe machte mir nichts mehr aus, seit ich mich so sicher durch die Luft bewegen konnte. Im Gegenteil – ich liebte es, die Felder, Wiesen, Seen und Wälder von oben sehen zu können und den Wind zu spüren. 
Nach einigen Minuten Fliegen kamen wir auch schon bei dem komischen Ei-Gebäude des Rats an. Elegant landeten wir knapp vor dem Eingang und verwandelten uns in unsere menschliche Gestalt zurück.
Die Ratsmitglieder saßen mit mir unbekannten Leuten gemeinsam am Tisch und waren bereits in ein Gespräch verwickelt. Das mussten die Drachen sein, mit denen Ron gemeinsam auf der Jagd war.
Wir grüßten die Mitglieder kurz und setzten uns dann auch an den Tisch.
„Ron, Emmy, wir sind froh, dass ihr auch da seid! Wie wir gerade erfahren haben, habt ihr nur zwei der Drachenjäger gefunden.“ Ich konnte nicht entscheiden, ob diese Aussage einen vorwurfsvollen Unterton hatte oder nicht. Aber das wusste man beim Rat wohl nie.
„Ja, so ist es! Wir konnten keine weiteren finden.“, bestätigte einer der fremden Männer.
„Wahrscheinlich haben sie bemerkt, dass wir kommen und haben sich verzogen.“, sagte der andere Fremde. Er lehnte sich mit einem zufriedenen Grinsen zurück.
„Möglich. Es kann jedoch auch sein, dass die übrigen Drachenjäger es geschafft haben, näher zu kommen“, gab Ludwig zu bedenken.
Ein leises Brummen ging durch die Runde. Anscheinend wollte es niemand bekräftigen, aber es traute sich auch niemand, diese Aussage absolut zu verneinen.
Mein Herz überschlug sich. Mein einziger Zusammenstoß mit Drachenjägern war schrecklich genug. So etwas würde ich nicht nochmal wollen!
„Es waren auf jeden Fall mehr als zwei!“ Gertrud dachte kurz nach. „Sie könnten davon gehört haben, dass sich Emmy nun hier aufhält.“
Wieder stolperte mein Herz. Ich hasste diese ungewollte Aufmerksamkeit, die mir seit meiner Verwandlung zum Drachen zuteilwurde.
„Sollen wir sie verstecken? Extra beschützen lassen? Oder lenkt das Aufmerksamkeit auf sie, die eher hinderlich wäre?“, überlegte Harald laut.
„Als erstes sollten wir herausfinden, wie die aktuelle Lage tatsächlich aussieht. Wie viele Drachenjäger sind hier in der Umgebung? Sind sie hinter Emmy her? Wissen sie überhaupt von ihr? Kennen sie bereits Portale oder suchen sie diese erst?“, schlug Ron vor.
Nicken ging durch die Reihen.
„Wir werden einige der jungen Drachen darauf ansetzen, dies herauszufinden. Wir haben eine sehr genaue Liste von Leuten, die als Drachenjäger in Frage kommen könnten. Auf jede einzelne Person werden wir einen Drachen ansetzen und sie für eine Woche beschatten lassen. Dann sehen wir weiter, welche Schlüsse wir daraus ziehen können.“, sagte Gertrud.
Mit diesem Vorschlag schien jeder soweit zufrieden zu sein.
„Zusätzlich werden wir natürlich trotzdem jeden Tag ein paar erfahrene Drachen Kontrollflüge machen lassen, um die Drachenwelt abzusichern. Besonders die Umgebungen der Portale sind wichtig.“, fügte Ludwig hinzu.
Die fremden Männer verließen kurz darauf den Raum und auch Ron und ich wollten aufbrechen. Doch Harald hielt uns zurück.
„Wartet bitte noch einen Moment!“, meinte Ludwig.
„Wir haben ein Angebot für dich, liebe Emmy.“, redete Ludwig weiter. „Nachdem du mittlerweile schon ein sehr gut ausgebildeter Drache bist und du sehr viel Interesse in anderen Drachen geweckt hast, würden wir dir gerne einen Vorschlag machen. Wie du weißt, arbeiten viele Drachen hier in der Drachenwelt und die meisten sind mehr oder weniger von uns angestellt, so wie Ron zum Beispiel. Natürlich gibt es viele verschiedene Jobs und auch verschiedene Möglichkeiten der Entlohnung. Wir würden dir das Angebot machen, dass du im Auftrag von uns zu verschiedenen Kongressen gehst und dich dort präsentierst. Du müsstest nicht viel machen. Nur anwesend sein, Interviewfragen beantworten und vielleicht für das eine oder andere Foto posieren. Je nach Angebot gibt es natürlich unterschiedliche Aufgaben. Vielleicht wollen auch andere Wissenschaftler mehr von dir herausfinden und mit dir ein paar Tests machen, aber du könntest natürlich jeden Auftrag selbst annehmen oder ablehnen.“
Ich war ein wenig überfordert und fühlte mich dazu gedrängt, es dem Rat rechtzumachen. Irgendwie fühlte ich mich so, als müsste ich es machen. So als würde ich bei ihnen in der Schuld stehen. Also sagte ich: „Ja, das könnte ich schon machen.“
Das Gesicht von Gertrud begann ein wenig zu strahlen. „Sehr schön! Ich werde einige Termine ausmachen und sie dir dann bekannt geben. Pass auf sie auf Ron!“
Schon waren wir wieder aus dem Ratsgebäude draußen und ich bereute es, so schnell zugesagt zu haben. Schließlich hatte ich auch schon einen Job in der Menschenwelt und einiges zu tun - außerdem hasste ich es, vor vielen Menschen zu stehen und über mich selbst sprechen zu müssen. 
Ron schien zu bemerken, dass es mir nicht sonderlich gut ging.
„Was ist los?“, fragte er sanft, während er seine Hand in meine schob. Wir gingen über das viel zu saftig wirkende Gras in Richtung des Baches.
„Hmm, ich weiß nicht genau, ob ich diesen Job hätte annehmen sollen.“, gestand ich.
„Du weißt doch noch gar nicht, was und wann du tatsächlich für sie arbeiten musst. Vielleicht ist der nächste Termin für einen Kongress erst in ein paar Monaten. Und du bist nie allein – ich werde immer an deiner Seite sein.“ Ron drückte kurz meine Hand, um mir zu signalisieren, dass er immer bei mir bleiben würde. Ein kleines Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Seine dunklen Haare waren schon viel zu lang geworden und bedeckten mittlerweile schon seine Ohren. Seufzend lehnte ich mich an seine Schulter.
„Du hast ja recht. Ich stelle es mir sicher nur wieder schlimmer vor als es ist.“, antwortete ich.
„Übrigens habe ich einen neuen Job… in der Menschenwelt“ Ich versuchte so lässig wie möglich zu wirken, obwohl ich wegen des neuen Jobs echt aufgeregt war! Ich freute mich schon auf die Arbeit in der Bibliothek und die Ruhe, die die Bücher ausstrahlten.
„Sagte ich es dir doch!“, Ron grinste mich an. „Ich wusste, dass du bald etwas finden würdest. Was machst du denn und ab wann?“, fragte er.
Ich erzählte ihm alles von meinem Aufgabengebiet, meiner ersten Begegnung mit Hera und von der wunderschönen Bibliothek. Eines der Dinge, die ich an Ron so sehr liebte, war auf jeden Fall seine Gabe, zuzuhören. Egal was oder wie viel ich erzählte, er hörte immer aufmerksam zu und unterbrach mich nie. Doch obwohl Ron sich für mich zu freuen schien, merkte ich, dass er diesmal in Gedanken wo anders war.
„An was denkst du?“, wollte ich wissen.
„Entschuldigung! Ich freue mich wirklich für dich… aber das mit den Drachenjägern lässt mir einfach keine Ruhe. Ich habe ständig Angst um dich.“
Meine Wangen wurden rot. Ich mochte es nicht, dass sich dauernd alles um mich zu drehen schien. Jetzt wurden mehrere Drachen damit beauftragt, Drachenjäger ausfindig zu machen. Natürlich war das nicht nur wegen mir, aber ich hatte das Gefühl, dass ich ein wesentlicher Grund dafür war. Die meisten Drachenjäger würden nur allzu gerne einen Wasserdrachen fangen, und mit meiner roten Schuppe wurde ich zu der außergewöhnlichsten Trophäe überhaupt.
Aber was sollte ich zu Ron sagen? Ich wusste es nicht, deshalb schwieg ich lieber. Wir verwandelten uns wieder in Drachen und flogen zurück zum Portal. Als wir bei der kleinen Ruine ankamen, blickte sich Ron ständig um. Es machte mich nervös, zu wissen, dass mir eigentlich jeden Moment jemand auflauern könnte. Mit schnellen Schritten verließen wir das Portal und tauchten wieder in die normale Welt ein. Um uns herum gingen die normalen Menschenwelt-Geschehen so weiter wie immer. Eine Frau mit einem kleinen Kind bog vor uns zu einem Supermarkt ab, drei Teenager standen rauchend an der Bushaltestelle und blickten in die Ferne. Ein Junge mit kurzen, blonden Haaren hörte viel zu laut Musik und hinterließ eine Fahne von Bier hinter sich. Obwohl es sommerlich warm war, bekam ich Gänsehaut. Keiner dieser Menschen hatte eine Ahnung von der Existenz der Drachen. Oder vielleicht doch? Wusste vielleicht doch jemand davon? Oder war jemand sogar selbst ein Drache? Oder ein Drachenjäger? Meine Hände wurden schwitzig und ich steckte sie in meine Westentaschen.
„Kommst du noch mit zu mir?“, fragte ich Ron.
„Natürlich, ich kann mein schönes Mädchen ja nicht einfach allein lassen.“, grinste er. Ich war froh, Ron an meiner Seite zu wissen.
Als wir in das kühle Haus meiner Großmutter eintraten, duftete es nach Zucchiniauflauf.
„Gerade zur richtigen Zeit!“, hörte ich meine Großmutter rufen. Sie hatte wohl das Geräusch der Haustür gehört.
Gemeinsam mit Ron ging ich ins Esszimmer. Ich half meiner Großmutter beim Tisch decken und anrichten. Dass sich meine Großmutter sofort gut mit Ron verstanden hatte, ersparte mir eine Menge Sorgen. Während sich die beiden darüber austauschten, was sie in den letzten Tagen so gemacht hatten, versank ich in meinen Gedanken. Vor ein paar Monaten hätte ich mir noch nicht einmal ausmalen können, dass ich jemals so ein Leben führen würde, wie ich es jetzt führte. Seitdem ich umgezogen war, hatte sich mein Leben so sehr zum Guten gewendet! Lächelnd schob ich mir eine volle Gabel Auflauf in den Mund. Dass mich jemals jemand so gut bekochen würde, wenn ich nach Hause kam, hätte ich vor einem Jahr noch nicht geglaubt.
„Möchtest du noch etwas?“, holte mich die Stimme meiner Großmutter wieder zurück.
„Nein, danke. Ich bin schon satt!“, sagte ich, während ich mir auf den Bauch griff, der schon prall gefüllt war.
Ron half meiner Großmutter beim Abräumen, während ich mich in mein Zimmer zurückzog. Ich schlüpfte in eine kurze Jogginghose und in ein verwaschenes altes T-Shirt, bevor ich mich auf mein Bett legte.
Als Ron ins Zimmer kam, legte er sich neben mich ins Bett und ich kuschelte mich an ihn. Ich hatte seinen Geruch vermisst und seinen Herzschlag, der mich beruhigte.
„Jetzt bin wohl ich dran, dich zu fragen, an was du denkst.“, schmunzelte Ron, nachdem er mein Gesicht eine Weile betrachtet hatte.
„Ach…“, seufzte ich. „Irgendwie denke ich gerade an alles und gar nichts.“ Ich lachte kurze auf. Eine viel zu poetische Aussage für das, an was ich wirklich dachte. „Ich denke daran, wie sehr sich mein Leben verändert hat. Wie schnell alles passiert ist. Manchmal kann ich es einfach immer noch nicht fassen und wenn ich morgens aufwache, komme ich mir manchmal wie in einem Film vor. So unwirklich… Aber auf eine schöne Art!“
Ron zog mich enger zu sich und gab mir einen Kuss auf meinen Scheitel. „Du hast viel durchgemacht und viel erlebt. Es ist ganz normal, dass du erst eine Zeit brauchst, um in deinem neuen Leben anzukommen.“
„Ja, da hast du recht.“, murmelte ich in seine Brust.
„Hast du eigentlich mal wieder etwas von deinem Bruder gehört?“, fragte Ron mich nach einer Weile.
„Letzte Woche ist ein Brief von ihm angekommen.“
„Ein Brief? Warums schreibt er dir nicht einfach eine Nachricht auf dein Handy oder ruft dich an?“, fragte Ron. Eine berechtigte Frage. „Ich weiß es nicht. Aber irgendwie ist es mir lieber so. Dann muss ich nicht gleich antworten und ich fühle mich nicht so, als würde er sich in mein Leben zurückdrängen wollen.“
„Was schreibt er?“, wollte Ron wissen.
Ich zuckte nur müde mit den Achseln. „Ich habe den Brief noch nicht geöffnet.“
Eine Zeit lang lagen wir schweigend nebeneinander. Ich belauschte Rons regelmäßige Atemzüge und das leise Rauschen der Blätter im Wind. Diese Momente der Ruhe liebte ich. Doch meine Gedanken kehrten immer wieder in die Vergangenheit zurück. Alles ging viel zu schnell... Als Lenny damals aus dem Heim zurückgekehrt war, zog ich bei Ron ein. Lenny hatte daraufhin ein paar Mal versucht, sich mit mir zu treffen und auch sein Betreuer hatte einmal gefragt, ob ich Lenny zu einer Therapieeinheit begleiten möchte. Doch ich war nicht bereit dafür, ihn wieder zu sehen, also hatten wir seit damals keinen Kontakt mehr. Aber das war nicht das Einzige, was mich in dieser Zeit beschäftigt hatte. Dass Simon zu dieser Zeit so plötzlich aus meinem Leben verschwunden war, hatte mir auch sehr weh getan. Ich fühlte mich von ihm hintergangen und sein Gehen hatte ein riesiges Loch in mein Herz gerissen - schließlich hatte er einen besonderen Platz in meinem Leben gehabt, der nicht so einfach ersetzt werden konnte. Doch wenigstens die Schulzeit war im letzten Jahr ganz okay gewesen. Ich hatte sehr gute Noten und wurde von der Klasse so gut wie immer ignoriert, was immerhin besser war, als ständig beleidigt und angefeindet zu werden. Katy hatte am Ende des Schuljahres zwar versucht, sich nochmal mit mir anzufreunden, doch ich hatte keine Lust mehr auf diese „Freundschaft“ und war bis zum heutigen Tag stolz, nicht darauf eingegangen zu sein. Sofort nachdem meine Großmutter vor etwas mehr als drei Monaten dann das Okay gegeben hatte, kündigte ich meinen Job, packte meine wenigen Sachen und zog zu ihr. Mittlerweile war es schon Oktober und mein Leben hatte sich komplett verändert. Das Einzige, was geblieben war, ist Ron. Allein der Gedanke an ihn erwärmte mein Herz. Ich blickte kurz zu ihm hoch. Seine Augen waren geschlossen, er hatte leichte Bartstoppeln an Kinn und Wange, seine Haare fielen ihm in die Stirn… Ich fand ihn einfach wunderschön. Sanft küsste ich seine Nase und er lächelte.
„Also schläfst du noch nicht?“, flüsterte ich.
Seine warme Hand wanderte auf meinen Rücken. „Nein, ich träume nur vor mich hin.“
„Und von was träumst du?“, fragte ich schmunzelnd.
„Na, von dir natürlich“, er lächelte. „Von uns beiden, wie wir über den Wolken fliegen und einfach frei sind. Keine Sorgen und keinen Plan, wo es hingehen soll.“ 

 

 

© Copyright - Magdalena Klos

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